Des Selbstmords Countdown.

Japan ist schockiert. Ein Selbstmordanschlag wird angekündigt. Für 11. November.

Der Bildungsminister, Bunmei Ibuki, bekam noch Anfang der Woche, am 07.11. einen Umschlag ohne Absender. Im Umschlag lagen mehrere Briefe. Der erste Brief, ein verzweifeltes Ultimatum, war an den Minister selbst adressiert. Der anonyme Autor gab sich für einen Schüler aus, der von seinen Mitschüler gequält und gedemütigt wurde, und zwar in solcher Intensivität, dass dem Schreibenden keine Wahl bleibe: falls die Quälereien nicht bis zum 11. November aufhören, werde er Selbstmord begehen. "Ich habe mich an die Lehrer gewendet, die haben mich ignoriert. Ich habe an meine Mitschüler gewendet, sie haben mich weiter gequält. Ich habe mich an meine Eltern gewendet, "Guduld, nur Geduld!", sagten sie mir. Alle haben mich im Stich gelassen", schreibt der Anonym.
Die weiteren Briefe sind ebenso wichtig: Im Brief an seine Quälgeister, und auch an die untätigen Klassenältesten ruft er sie auf, seiner Tat zu folgen: "Ihr alle habt mich getötet. Deswegen sollt Ihr alle auch sterben. Das ist meine letzte Bitte: am 12. November begeht Ihr alle den Selbstmord: durch Erdrosseln oder Erstechen mit einem Messer".


Dieser Brief ist auch bemerkenswert wegen des dort entworfenen Szenarios post mortem: Die Medien, der Bildungsausschuss, das Bildungsministerium, die Schulleitung und die Mitschüler werden die eigene Schuld eifrig auf die anderen abwälzen und die Gründe der Tat überall suchen, nur nicht bei sich selbst. Die offensichtliche Existenz des Bullying (Schuladaptation des Mobbing am Arbeitsplatz) wird überall dementiert werden, die Quälereien selbst werden hiermit aber nie. Diese hochgradige Gesellschafts-, aber auch Medienkritik weist auf die Ausweglosigkeit des Schreibenden einerseits, aber auch auf seine exzellente Strategie andrerseits hin: Nun ist jeder Versuch, eigene Schuld abzuleugnen, bereits entlarvt, noch bevor er artikuliert wurde. Mit billigen Schuldweiterleitungen kommt man jetzt nicht mehr davon. Denn es folgen bereits die weiteren Selbstmorde, und die Schulen zitieren - eigenlich! - den Brief des noch lebenden Selbstmörders, indem sie behaupten, "der Unfall hat nichts mit irgendwelchen Quälereien zu tun, Mobbing gibt's nicht bei uns" (wie es der Schulleiter der Hochschule in Kokurakita-ku (Nordkyushu) behauptet.


Die Briefe sind äußerst allgemein verfasst, auch der Briefstempel ist unleserlich, also wird der Brief an sich zu einem "pars pro toto", der Hilferuf entspringt den unzähligen Opfern des Bullying in ganz Japan. Die ersten Schritte sind bereits - ungewöhnlich schnell - unternommen: die Presse sucht nach den Mobbenden und Gemobbten im ganzen Land und jede Schule, in deren Schatten sich die Gewalt eingenistet hatte, fürchtet sich vor der Entlarvung. Der Bildungsminister ruft den anonymen Schreiber auf, sich zu besinnen, und zu verstehen, dass die Gesellschaft hinter ihm stehe und ihn unterstütze. Im Kontext der Briefe klingen diese hilflosen Floskeln geradezu zynisch.


Eigentlich muss jetzt auch kein Selbstmord mehr stattfinden, auch ist es nicht mehr relevant, ob die Briefe wirklich der Feder eines Schülers entstammen, oder doch deren Urheberschaft bei einem Journalisten, Politiker oder bei besorgten Eltern liegt - der Schneeball der Offenbarung rollt durch die Insel. Jeder fühlt sich angesprochen. Ob kein Selbstmord stattfindet oder doch eine Selbstmordlawine durch die gequälten Schulhöfe rollt - sicher ist, das Unausgesprochene ist endlich ausgesprochen, das Unkonkretisierbare konkretisiert, jegliche Mechanismen der Vertuschung gar prophezeit...

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