Alle sind tot

An sich bin ich kein ängstlicher Merzmensch, kaum noch abergläubisch. Aber diesmal habe ich so richtig Angst.

Denn ich hatte eben einen Widergänger gesichtet.


Also, dass der Autor tot sei, haben wir spätestens von Roland Barthes erfahren (der segnete übrigens auch das Zeitliche, im Jahre 1980).

Dass auch der Leser tot sei, erfahre ich gerade von Herrn Zaugg (via chatatkins). Was hat Herr Zaugg nun für ein schreckliches Szenario entworfen...
 Ade Zeitungslesercoolness!
schreibt Herr Zaugg.  Doch wann war eigentlich Zeitunglesen cool? Ich denke da an die 1920ger, als die Männer am Strande diese gestreiften blauweissen Ringer-Badeshirts hatten, und stolze runde Kakerlakenschnurrbärte. Und alles war noch naiv, frisch und neu. Da war man ein cooler Zeitungsleser, der wusste, was in der Welt passiert, der am Ball der Zeit war.

Doch das meint Herr Zaug nicht. SterbenLesen wir mal weiter.

Die Leser sterben aus. Unter dieser aussterbenden Spezie fasst Herr Zaugg zusammen...
...[d]ie echten Zeitungsleser [...]. Wir sprechen vom Leser im Lehnstuhl...
Gut, ich habe mir es mal vorgestellt.
  • Lehnstuhl, und darin ein Leser der BILD liest.
    => nein, es ist nicht nur uncool, es ist oberpeinlich, diese Vorstellung. Das hat wohl Herr Zaugg nicht im Sinn.
  • Lehnstuhl, und darin ein Leser, der FAZ liest.
    => gut, da sind wir schon der Sache näher, doch spätestens nach der Feuilleton-Beilage wird der Leser nicht cool sondern staubig, voller Zeitungsblätter, die er meistens nicht braucht (Wirtschaftsteil, Anzeigen, Sport - das war jetzt das, was ich nicht brauche), er wird zu einem intellektuellen Messie. Und das ist wohl kaum cool. WoodyAllenesque vielleicht. 
  • Lehnstuhl, und darin ein Leser, der Volltext liest
    => Ja, das könnte noch cool sein, doch auch bei Volltext bleibe ich nicht ungleichgültig zu den darin stehenden Meinungen, und ich möchte des öfteren meine eigene Mei...
Stop! Wir haben Herrn zaug nicht vollständig zitiert.
 ..[d]ie echten Zeitungsleser [...]. Wir sprechen vom Leser im Lehnstuhl, von seinem verschmitzten Lächeln, wenn er etwas Saugutes gelesen hatte, und von all den Gedanken, die er für sich behielt.
A-ha. Die Gedanken für sich behalten - das ist brav. Da wird er reüssieren! Zeitung kaufen, Zeitung lesen - und schweigen. Das soll also cool sein: "Ich habe meine eigene Meinung diesbezüglich, sage aber nich, bin zu cool für". Oder, aus der Perspektive der Zeitung: "Der Leser soll gefälligst lesen, und schweigen, wie es sich gehört. Denn mit Deiner Meinung untergräbst Du unsere Autorität".

Also diese Auffassung von einem höchst passiven Leser ist nicht nur verklärt und bieder, sie ist irgendwie neobieder. Und dazu sehr kontraproduktiv. Aber seltsamerweise, wenn diese Passivität von einem Leser überwunden wird, wenn er also anfängt, lebendig zu sein, zu schreiben - ausgerechnet dann sei er auf der Stelle tot, so herr Zaugg.

Nun gut, aber hier ist auch noch Sokrates im Spiel. Ja, der alte Sokrates. Passt ja sehr schön in den Kontext: hat nie was geschrieben, alles hat nach ihm Platon notiert. Sokrates hat ja lediglich herumsophisiert, mit "ansehnlichen Jünglingen".

Und Sokrates stehe also, nach Herrn Zaugg's Meinung, auf der Seite der Schreiber, er klaut persönlichen Daten der Blogger und tut übrigen Unsinn - aber wozu? Darauf lässt sich im Artikel von Herrn Zaugg nicht schliessen.

FAZIT. Säße Sokrates gerade auf meiner Sofa, würde er mit folgenden Sophismen sprudeln:
Schreiber schreiben
Leser dürfen nicht schreiben
Schreiber dürfen das, was Leser nicht dürfen, sind also keine Leser.
Und noch ein Sophismus:
Schreibende Leser sind Blogger
Blogger nutzen Internet als Kommunikationsmedium
Schreibende Leser sind online
 Und als letzter für heute Sophismus
Leser sind tot (nach Zaugg)
Tote Leser nutzen Internet als Kommunikationsmittel.
Zaugg schreibt einen Online-Artikel, ergo... er ist tot?!
 Also, haben wir es hier mit einem Widergänger zu tun? Brr, mir wird Angst.

Aber ich muss Herrn Zaugg beruhigen: es gibt sie, die Leser, die im Lehnstuhl verschmitzten Lächelns sitzen. Ich sitze nämlich in meinem Lehnstuhl und lese. Blogs. Auf meinem Laptop.

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